Immer öfter online: Wann wird’s problematisch?

| Bettina Bichsel

Games, aber auch Social Media können für Jugendliche zu einem Fluchtraum werden. Neue Zahlen für die Schweiz zeigen, wie viele 11- bis 15-Jährige ein problematisches Online-Verhalten aufweisen. Und ein Sucht-Experte sagt, was Eltern tun können.

Der 15-jährige Nico zockt gerne mit seinen Freunden Minecraft – und vergisst manchmal, dass es auch noch Hausaufgaben gibt. Die 13-jährige Alina träumt davon, Influencerin zu werden, und folgt begeistert ihren Idolen. Sollten sich die Eltern der beiden Sorgen machen?

Neue Studie zu Internetverhalten von Jugendlichen

Über 9000 Schweizer Schüler*innen im Alter von 11 bis 15 Jahren aus mehr als 600 zufällig ausgewählten Klassen haben für die neue → HBSC-Studie einen Fragebogen rund um ihr Online-Verhalten ausgefüllt. Es ging nicht nur darum, wofür sie das Internet nutzen und wie oft sie online gehen. Es ging auch um Fragen wie:

  • Nutzt du soziale Netzwerke, um negative Gefühle zu vermeiden?
  • Versuchst du, weniger oft Social-Media-Kanäle zu nutzen, aber es gelingt dir nicht?
  • Fühlst du dich nicht gut, wenn du nicht gamen kannst?
  • Denkst du oft ans Gamen, selbst wenn du gerade nicht spielst?
  • Vernachlässigst du die Schule oder andere Freizeitaktivitäten, weil du oft spielst?
  • Lügst du deine Eltern oder Freund*innen an, wenn es um die Frage geht, wie lange du online bist oder ein Game spielst?
  • Gab es schon Streit mit deinen Eltern, weil sie finden, dass du zu oft in sozialen Netzwerken unterwegs bist oder zu häufig an der Spielkonsole?


All diese Fragen können einen Hinweis darauf geben, dass Online-Aktivitäten von Jugendlichen über das hinaus gehen, was noch okay bzw. gesund ist.

Hinter dem problematischen Medienkonsum steckt häufig ein anderes Thema.

Domenic Schnoz, Schweizerische Gesundheitsstiftung RADIX

Aufmerksamkeit als Währung

Die Antworten der Jugendlichen zeigen, dass soziale Medien und Games gerade auf Heranwachsende einen besonderen Reiz ausüben:

  • TikTok bietet Unterhaltung und Gesprächsstoff. Auf Instagram, Snapchat, WhatsApp oder Telegram können sie sich mit anderen austauschen und Fotos teilen, auch wenn sie gerade alleine zu Hause sind.
  • Games eröffnen neue Welten. Wer spielt, schlüpft in die verrücktesten Rollen, ist plötzlich Held oder Bösewichtin. Mit Kreativität und Geschick kann jede*r glänzen, andere beeindrucken und auf dem Pausenplatz mit Wissen auftrumpfen.


Aber: Soziale Medien und Games sind auch Parallelwelten, in die sich Jugendliche zurückziehen, wenn es ihnen nicht gut geht. Wenn die «reale» Welt überfordert und stresst. Dass gerade diese beiden Aktivitäten gemäss Studienergebnissen zu einem problematischen Mediennutzungsverhalten führen können, überrascht Domenic Schnoz, Leiter des Zentrums für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte bei der Schweizerischen Gesundheitsstiftung → RADIX, deshalb nicht: «Social Media und Games sind so konzipiert, dass sie möglichst viel Aufmerksamkeit generieren. Aufmerksamkeit ist die Währung dieser Anwendungen, weil sie ja kostenlos zur Verfügung stehen. Vereinfacht könnte man sagen: Je mehr Aufmerksamkeit seitens der Nutzerinnen und Nutzer, desto höher sind die Einnahmen der Unternehmen, die dahinter stehen.»
 

«Social-Media-Verhalten von Mädchen bereitet Sorgen»

Die Auswertung der Fragebögen zeigte, dass die 11- bis 15-Jährigen in den letzten Jahren insgesamt häufiger online waren. Die Corona-Pandemie mag mit ein Grund dafür sein. Geht es um TikTok, Snapchat & Co., gibt es bei sieben Prozent der Schülerinnen und Schüler deutliche Hinweise auf ein problematisches Verhalten – unter den Mädchen sogar bei jedem zehnten. Das Thema Games wurde bei den 14- und 15-Jährigen betrachtet. Unter denjenigen, die zumindest hin und wieder spielen, lieferten drei Prozent bei den Fragen Antworten, die Sorgen bereiten. Und: Zwar spielen Jungs öfter als Mädchen, geht es um ein problematisches Verhalten, liessen sich unter den Gamer*innen aber keine Unterschiede feststellen. 

Die Studie ist repräsentativ, wir können sie also als Spiegel für alle 11- bis 15-Jährigen in der Schweiz betrachten, wenn es um eine Einschätzung darum geht, wie verbreitet ein problematischer Umgang mit Online-Aktivitäten ist.

Die Zahlen decken sich zudem mit den Erfahrungen aus der Praxis bei RADIX. Und auch wenn die Ergebnisse einerseits belegen, dass der weitaus grösste Teil der Jugendlichen sich in normalem Rahmen im Internet bewegt, sind laut Domenic Schnoz andererseits doch zwei Aspekte zu beachten: «Heruntergebrochen sind es dennoch viele Jugendliche, die Unterstützung brauchen. Und besonders die Zunahme der übermässigen Social-Media-Nutzung von Mädchen macht uns Sorgen.»

Ein problematisches Anwendungsverhalten geht einher mit einem Kontrollverlust. Die Betroffenen können nicht aufhören, selbst wenn sie wollen. Warnsignale für Sie als Eltern können zudem sein, wenn Ihr Kind:

  • plötzlich und anhaltend in der Schule schlechtere Noten hat
  • oft übermüdet und unkonzentriert ist
  • sich immer mehr zurückzieht
  • kein Interesse mehr an Offline-Freizeitaktivitäten hat
  • gereizt oder aggressiv reagiert, wenn es das Smartphone oder die Spielkonsole weglegen soll

Eltern sollten versuchen, die Perspektive zu wechseln.

Domenic Schnoz, RADIX

Therapie: Die ganze Familie im Fokus

In den Beratungen stellen die Therapeut*innen bei RADIX oftmals fest, dass Eltern mit falschen Vorstellungen kommen. Das heisst: Für sie steht der Medienkonsum ihres Kindes im Fokus und sie hoffen, dass Fachleute ihrem Sohn oder ihrer Tochter sagen, dass sich dringend etwas ändern muss. Laut Domenic Schnoz ist es aber wichtig, dass die Familien gemeinsam einen Weg finden. Dafür brauche es eine ganzheitliche Herangehensweise: «Wir wollen alle Sichtweisen einfangen. Jede Familie ist anders und jede*r Jugendliche ist anders – dem tragen wir Rechnung. Hinter dem problematischen Medienkonsum steckt häufig ein anderes Thema, also schauen wir: Welche Problemfelder sind da und wie hängt alles zusammen?»

Oft hilft es auch zu verstehen, dass bei problematischem Medienverhalten ähnliche Prozesse im Gehirn vor sich gehen wie etwa bei einer Alkoholsucht: Social Media und Games regen unser Belohnungszentrum an, so dass Dopamin ausgeschüttet wird – ein Hormon, das uns glücklich macht. Das führt nicht nur dazu, dass wir immer mehr von dem wollen, was uns diesen Wohlfühl-Kick beschert. Das Belohnungssystem kann auch aus der Balance geraten: Dann fühlt sich alles andere plötzlich bei weitem nicht mehr so gut an wie der Kick, den wir erleben, wenn wir gamen oder Likes für ein auf Instagram gepostetes Foto erhalten.

Lernfelder für Jugendliche und Eltern

Um von ihrem problematischen Online-Verhalten loszukommen, müssen Jugendliche vor allem Folgendes lernen:

  • Selbstregulierung: Zum Erwachsenwerden gehört dazu, dass wir nicht allen Verlockungen um uns herum nachgeben. Allein schon zu verstehen, dass Medien mit den verschiedensten Strategien arbeiten, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen und möglichst lange zu halten, kann dabei helfen.
  • Prioritätensetzung: Klar macht es mehr Spass, ein Game zu spielen statt Hausaufgaben zu erledigen. Aber wenn die Konsequenz davon ist, dass ich in der Schule immer schlechter werde, muss ich eben zuerst in den sauren Apfel beissen, um auf lange Sicht in der Balance zu bleiben.
  • Selbstreflexion: Über das eigene Verhalten und die Beweggründe nachzudenken, stärkt letztlich auch die Autonomie der Jugendlichen. Warum schaue ich mir immer wieder Instagram-Profile von Influencer*innen an? Mache ich es, um mich abzulenken? Hilft es mir, Stress abzubauen? Was fasziniert mich daran und welche Gefühle sind damit verbunden bzw. was macht es mit mir? Fühle ich mich dadurch besser oder eher im Gegenteil?
  • Suche nach Alternativen: Die Online-Aktivitäten müssen nicht aufhören, aber eine gute Balance zwischen On- und Offline-Zeit ist wichtig. Was macht mir auch noch Spass? Was könnte ich Neues ausprobieren oder in welchen Verein könnte ich gehen?


Zugleich gibt es auch für Eltern Lernfelder, wie Domenic Schnoz erklärt: «Eltern sollten versuchen, die Perspektive zu wechseln. Interessieren Sie sich für das, was Ihr Kind so fasziniert und anerkennen Sie die Fähigkeiten, die dafür nötig sind: Bei Social Media zum Beispiel, wie man tolle Fotos macht oder wie man sich in Szene setzt. Und bei Games sind häufig Taktik, Strategie und Teamwork gefragt. Legen Sie aber auch gemeinsam Grenzen mit dem/der Jugendlichen fest. Und noch etwas: Social Media und Games sind fester Bestandteil der heutigen Jugendkultur, bei denen es keine scharfe Trennung mehr zwischen realem und virtuellem Raum gibt. Wer dabei komplett aussen vor gelassen wird, kann z. B. auf dem Pausenplatz nicht mitreden.»

Das Wichtigste ist, mit den Jugendlichen in Beziehung zu bleiben und sie darin zu unterstützen, einen gesunden Umgang mit digitalen Medien zu finden.

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Weitere Informationen, Tipps und Kontaktadressen zu Beratungsstellen finden Sie in unserer Rubrik → Onlinesucht

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.