Hitler-Memes und sexistische Sprüche: Wie der Gruppenchat meiner Kinder explodierte

| Noëmi Pommes

Meine (Fast-)Teenies gründeten mit einer Freundin auf Whatsapp eine Gruppe, die im Handumdrehen ausser Kontrolle geriet. Selbst die Polizei hat den Chat auf dem Radar.

Die Idee unserer Kinder klang nett: Neue Bekanntschaften ausserhalb der eigenen Bubble finden und digitale Brieffreundschaften pflegen – nach der Vorstellung, dass Freund*innen von Freund*innen sowas wie eigene Freund*innen sind oder werden können. Deswegen haben wir Mütter auch nicht interveniert, als unsere Kinder in den Sommerferien 2024 eine Whatsapp-Gruppe eröffnet haben mit dem lustigen Namen «Mach alle rein, die du kennst!»

«Mach alle rein, die du kennst!»

Vielleicht waren wir blauäugig, vielleicht war es auch die Mittelmeersonne, die unsere Hirne so heftig röstete, wie ich das noch nie zuvor erlebt hatte. Jedenfalls guckten wir zu, wie unsere drei Teens, angeführt von Tessa (Name geändert), der Tochter meiner Freundin, fast ihr ganzes Adressbuch in diesen Gruppenchat kippten, Grosseltern und uns Eltern eingeschlossen. Wir lasen mit, wie Tessa mit der Cousine meiner Kinder über Taylor Swift fachsimpelte, und beobachteten, wie einander unbekannte Kinder sich gegenseitig Bilder ihrer Haustiere zeigten. Wir schärften unseren Jugendlichen ein, keine Fotos und andere persönlichen Angaben von sich in den Chat zu stellen. Wir verfolgten interessante Diskussionen zum Sinn von Hausaufgaben, zu queeren Identitäten, zu Putin, zu Mobbing, Modetrends und den 1001 Peinlichkeiten ihrer Eltern und Lehrpersonen.

Immer wieder sprachen wir mit ihnen zwischen Strand und Pool, am Glacéstand oder am Abend beim Znacht über Diskriminierung, Meinungsfreiheit, Zensur, Cybermobbing und Online-Hass.

Erste diskriminierende Memes

Wir bekamen mit, wie die Gruppengrösse wuchs und wuchs, bald waren es 100 Mitglieder. Wir lasen, wie einzelne Chatteilnehmende queerfeindliche Sprüche und rassistische Memes posteten, wie unsere Kinder zusammen mit einer Überzahl anderer Jugendlicher den «Extremist*innen» widersprachen und wie Tessa als Gruppengründerin und meine Kids als Co-Admins nicht lange fackelten und die Aufwiegler*innen aus dem Chat warfen. Kurz darauf entfernten die Kinder auch uns und alle anderen Erwachsenen. Was wir irgendwie verstanden: Die Jugendlichen wollten Gespräche unter Teenies führen und sicher nicht von uns beobachtet werden.

Immer wieder fragten wir nach, wie es im Chat so laufe. «Es sind jetzt 300 Mitglieder. Und gestern musste ich 10 Idioten entfernen. Ich habe sie noch verwarnt, aber als sie nicht aufhörten zu provozieren, habe ich sie rausgeschmissen», erzählte Tessa. Sie rollte mit den Augen, aber es war klar, dass sie auch stolz war über ihren Job als digitale Hauswartin. Manchmal streckten unsere Kinder als Admin-Kollektiv die Köpfe zusammen und diskutierten, wie sie mit einer Aussage oder einem Gruppenmitglied umgehen sollten, wo die Grenzen verlaufen, was noch lustig ist und wo der Spass aufhört. Und immer wieder sprachen wir mit ihnen zwischen Strand und Pool, am Glacéstand oder am Abend beim Znacht über Diskriminierung, Meinungsfreiheit, Zensur, Cybermobbing und Online-Hass.

600 Mitglieder, Moderation unmöglich

Ein paar Tage später endeten unsere Ferien, bei uns Müttern kehrte der Alltag wieder ein und der Chat war kaum noch Thema. Als wir doch wieder darüber sprachen, hatte sich die Situation zugespitzt: Es seien unterdessen mehr als 600 Menschen in der Gruppe, der Ton habe sich verschärft, erzählten die Kinder. Und auch, dass sie den Admin-Job nicht mehr machen wollten, dass die Stimmung krass und die Moderation uferlos geworden sei – beziehungsweise, dass sie aufgegeben, andere User*innen zu Mit-Admins gemacht und den Chat bei sich auf dem Smartphone archiviert hätten.

Ich liess mir den Chat auf dem Handy meines Sohnes zeigen. Mehr als 800 ungelesene Nachrichten in wenigen Tagen, und auch wenn ich es nicht schaffte, alles durchzulesen, sah ich doch etliche Hitler-Memes und solche, die den Holocaust verharmlosten. Rassistische Nachrichten und sexistische Bilder und Sprüche, Gesprächsdynamiken, bei denen ein Wort das andere gibt und Aussagen, die vor Hass nur so troffen. Die Gegenrede war deutlich weniger geworden und wer es wagte, zu widersprechen, wurde verbal fertig gemacht. Im Chat waren auch Inhalte, die vermutlich justiziabel sind.

Wir hofften, dass die Strafverfolgungsbehörden den Chat im Auge behalten und vielleicht sperren lassen würden. Doch das scheint nicht so einfach zu sein.

Die Polizei ruft an

Meine Freundin und ich wiesen die Kinder an, den Chat sofort zu verlassen und uns alle Namen von anderen Mitgliedern aus unserem Umfeld zu nennen. Ich informierte alle Kinder und deren Eltern, entschuldigte mich für den eskalierten Chat und riet ihnen, die Gruppe ebenfalls zu verlassen. Auch Tessa, die Gründerin, trat aus.

Für ein paar Wochen war Ruhe, das Thema vergessen. Bis bei Tessas Mutter plötzlich das Handy klingelte. Ein Polizist aus dem Kanton Baselland war in der Leitung. Man wolle sie darüber informieren, dass ihre Tochter einen Chat gegründet habe, der gemeldet worden sei. Was das bedeutete für Tessa, ihre Mutter oder wie es mit dem Chat weitergehen würde, erklärte er nicht.

Dennoch waren wir Mütter froh, dass eingegriffen wurde, schliesslich hatten wir uns in den vergangenen Wochen mehrmals gefragt, was wir hätten tun können und ob wir mehr hätten tun müssen, als die Kinder einfach austreten zu lassen. Ob wir selbst hätten aktiv werden sollen, solange unsere Kinder noch im Chat waren. Wir hofften, dass die Strafverfolgungsbehörden den Chat im Auge behalten und vielleicht sperren lassen würden. Doch das scheint nicht so einfach zu sein.

Strafrechtlich relevante Inhalte

Ein paar Monate später nämlich meldete sich die Polizei erneut, dieses Mal aus Bern und direkt auf Tessas Handy. Die Mutter übernahm das Gespräch von ihrer erschreckten Tochter. Wieder sei der Chat gemeldet worden, es müssen wohl Nachrichten und Aussagen gefallen sein, die strafrechtlich relevant seien, so der Polizist. Was sie denn jetzt tun könne, fragte meine Freundin zurück. Und dass sie wisse, dass der Chat eskaliert und ihre Tochter aus diesem Grund schon lange kein Mitglied mehr sei. Dass es ihr leid tue, wie schlimm sich das entwickelt habe. Der Polizist gab ihr recht – einen konkreten Ratschlag aber hatte er nicht.

Tun kann Tessa, können wir, wohl nichts mehr. Ob nun in den nächsten Monaten weitere Anrufe von Polizeien aus der Schweiz oder gar dem Ausland kommen oder ob dem Chat endlich der Stecker gezogen wird – wir wissen es nicht. Für uns war es eine Lehre. Und an alle Eltern und Bezugspersonen, deren Kinder diesem oder einem ähnlichen Chat hinzugefügt wurden. Es tut uns allen wirklich leid!

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Tipps für Eltern

  • Kinder begleiten: WhatsApp schreibt ein Mindestalter von 13 Jahren vor. Wenn Ihr Kind es vorher nutzt, ist Ihre Begleitung besonders wichtig. Richten Sie gemeinsam das Profil ein.
  • Über Risiken reden: Klären Sie Ihr Kind darüber auf, dass in Chats auch Mobbing oder sexuelle Übergriffe passieren und dass diskriminierende, beängstigende oder verbotene Inhalte auftauchen können. Besprechen Sie, wie solche Situationen aussehen können und was Ihr Kind im Ernstfall tun soll. Es soll wissen, dass es sich immer an Sie wenden darf, auch wenn etwas unangenehm ist.
  • Gruppen nur nach Absprache: Vereinbaren Sie, dass Ihr Kind nicht einfach einer Gruppe beitritt, sondern zuerst mit Ihnen darüber spricht.
  • Netiquette beachten: Erinnern Sie Ihr Kind daran, dass im Chat dieselben Regeln für respektvollen Umgang gelten wie im echten Leben, das heisst: keine verletzenden Nachrichten schreiben, keine Gerüchte verbreiten, niemanden blossstellen.
  • Technische Einstellungen nutzen: Legen Sie zum Beispiel fest, dass das Profilbild nur für Personen sichtbar ist, die im Handy-Adressbuch gespeichert sind, dass nur bekannte Kontakte eine Gruppenanfrage senden dürfen und dass Bilder oder Videos nicht automatisch auf dem Handy gespeichert werden (weil man sich bei verbotenen Inhalten sonst unter Umständen strafbar macht). Auf → medien-kindersicher.de finden Sie Schritt-für-Schritt-Anleitungen zu Sicherheitseinstellungen.
  • Keine Treffen mit Unbekannten: Ihr Kind sollte sich niemals ohne Begleitung einer erwachsenen Person mit einer Internetbekanntschaft treffen.
  • Im Gespräch bleiben: Fragen Sie regelmässig, mit wem Ihr Kind schreibt und in welchen Gruppen es ist. Lassen Sie sich Inhalte zeigen, aber lesen Sie nicht ungefragt mit.
  • Im Ernstfall einschreiten: Sperren Sie unangenehme oder belästigende Kontakte sofort und informieren Sie die Betreiber. Schalten Sie wenn nötig die Polizei ein.

Noëmi Pommes ist Medienschaffende und zweifache Mutter, setzt sich beruflich und privat für Inklusion und Diversität ein, regt sich auf über Ungleichbehandlung und Starrköpfigkeit und kompensiert mit Fritten, Singen und Campen im VW-Bus. Zum Schutz ihrer Kinder schreibt sie hier unter einem Pseudonym.