«Hast du geile Brüste? Schick Foto!»

| Noëmi Pommes

Meine 13-jährige Tochter erhält auf Snapchat fast jeden Tag Aufforderungen, Nacktbilder zu schicken. Sie sagt konsequent nein – noch?

Marvin schreibt: «Schick Nudes (Nacktbilder)»
Tochter: «Nein.»
Marvin: «Doch.»
Tochter: «Nope.»
Marvin: «Warum?»
Tochter: «Weil ich nicht will.»
Marvin: «Aber du kriegst auch welche, wenn du Screenshots schickst.»
Tochter: «Ich will aber keine.»
Marvin: «Dann schick eins in Unterwäsche!»
Tochter: «Ne.»
Marvin: «Schick Arschbilder.»
Tochter: «Nö.»

Solche Dialoge führt meine 13-jährige Tochter auf Snapchat immer wieder, bevor sie die fremden Profile dann irgendwann blockiert. Die Marvins, Lions und Kevins (Namen nicht geändert, sind vermutlich sowieso fake) lassen nicht locker. Kevin schreibt ausdrücklich: «Bei mir heisst Nein Ja und Ja heisst Ja. Es gibt kein Nein. Komm schon, gönn mir doch.» Manchmal gehen die Aufforderungen weiter, und die unbekannten User verlangen mit Nachdruck ein Treffen.
 

Spricht meine Tochter wirklich so offen über alles?

Ich bin dankbar, dass meine Tochter diese Aufforderungen so entschieden abweist und dass weder ein Treffen noch das Verschicken erotischer Bilder für sie in Frage kommen. Dass sie (noch) kein Interesse daran hat, Fotos oder persönliche Informationen zu posten. Genauso dankbar bin ich, dass sie mit mir offen über ihre Erfahrungen spricht. Aber spricht sie wirklich über alles so offen?


Mir ist es schon seit Kindergartenbeginn wichtig, mit meinen Kindern immer wieder ins Gespräch zu kommen über die Risiken und die Möglichkeiten im digitalen Raum. Mit ihnen über die Gefahren von Cybergrooming, Sexting, Sextortion, Cybermobbing zu sprechen. Die Themen ändern sich ständig: Aus dem kleinen Mädchen, das am liebsten Traumwelten mit Playmobil baut, ist quasi über Nacht eine junge Frau geworden. Sie schminkt sich, quatscht stundenlang in Videochats mit ihren Freundinnen und gibt fast ihr ganzes Geld für Kleidung aus.

30 Prozent aller jungen Frauen sind psychisch belastet

Eine schwierige Zeit, diese Pubertät. Nicht nur, dass sich das ganze Hirn und der Körper verändern, während gleichzeitig die Eltern blöd und die Freund*innen wichtiger werden, die Schule grosse Entscheidungen fordert, das Umfeld immer mehr Ansprüche stellt und sich ständig Schmetterlinge im Bauch einnisten. Alle Jugendlichen sind in dieser intensiven Zeit zwischen Entwicklungsaufgaben und Identitätssuche gefordert, manche auch überfordert. Rund 3 bis 10 Prozent aller Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren erkranken laut Angaben der Deutschen Depressionshilfe an einer Depression (Zahlen vor Corona und Massnahmenbeginn in Europa). Die Multikrise aus Pandemie und Kriegen hat das Problem zusätzlich verschärft. Eine neue Erhebung aus dem Jahr 2022 des Bundesamts für Statistik legt dar, dass sich 29 Prozent aller jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren psychisch mittel oder stark belastet fühlen. Eine der vielen Schwerbetroffenen: Meine Tochter. 

Im Grossen und Ganzen ist es leider so: Die Komplimente, die meine Tochter für ihr Aussehen bekommt, toppen die positiven Rückmeldungen und Erfahrungen von Lehrpersonen, Gesellschaft und Gleichaltrigen um ein Vielfaches.

Noëmi Pommes

Das meiste Lob erhält mein Teenager für ihr Aussehen

Während es für sie schwierig ist, ihren Platz in der Gesellschaft und im sozialen Gefüge zu finden und sie unter grossen Selbstwertproblemen leidet, wird ihr Körper immer weiblicher, wird taxiert, bewundert, bewertet. An manchen Tagen geht sie damit ausgesprochen selbstbewusst um, taucht auf in Minikleidchen, bauchfreien Tops und mit einem frechen Spruch auf den Lippen. An anderen hüllt sie sich in Cargopants, Schlabberpulli und Schweigen. Im Grossen und Ganzen ist es leider so: Die Komplimente, die sie für ihr Aussehen bekommt, toppen die positiven Rückmeldungen und Erfahrungen von Lehrpersonen, Gesellschaft und Gleichaltrigen um ein Vielfaches.

Und genau das macht mir Angst: Was, wenn statt den plumpen und widerlichen Kevins-Marvins-Lions plötzlich ein netter, einfühlsamer, hilfsbereiter »Liam« ihr schreibt? Ist meine Tochter in ihrer schwierigen Lebensphase, ihrem depressiven Weltbild und ihrem grossen Wunsch nach Anerkennung durch Gleichaltrige nicht sehr anfällig für solche Kontaktaufnahmen? Was aber, wenn »Liam« in Wahrheit nicht der süsse Boy aus der Nachbarschaft ist, sondern ein erwachsener Mann, der seine sexuellen, Macht- oder Gewaltfantasien mit einer Minderjährigen ausleben möchte? Ein Betrüger, der zuerst Vertrauen fordert, dann Nacktbilder, dann Geld? Der ihre Bilder in pädokriminellen Netzwerken verkauft, sie erpresst und bedroht?

Niemand darf dich sexuell belästigen – auch online nicht!

Es bringt natürlich nichts, den Teufel an die Wand zu malen oder meiner Tochter das Smartphone wegzunehmen. Stattdessen muss ich dafür sorgen, dass ich mit ihr regelmässig über diese Themen spreche und weiter viel Energie in unsere vertrauensvolle Beziehung stecke, sodass sie zu mir kommt, wenn etwas Seltsames oder Unangenehmes passiert. Dass ich ihr immer wieder erkläre, dass niemand ihren Körper bewerten oder sie sexuell belästigen darf – auch nicht online, im Schutz der Anonymität. Auch nicht, wenn sie einen Minirock trägt. Und auch nicht, wenn sie zuvor vom Bedränger Komplimente, Geschenke, Getränke oder Hilfestellungen erhalten hat. Dass ich zur Begleiterin werde, die mit ihr das Nein-Sagen, das Spüren und Vermitteln eigener Grenzen und Bedürfnisse übt.

Liebes Kind: Wir schaffen das!

Noëmi Pommes ist Medienschaffende und zweifache Mutter, setzt sich beruflich und privat für Inklusion und Diversität ein, regt sich auf über Ungleichbehandlung und Starrköpfigkeit und kompensiert mit Fritten, Singen und Campen im VW-Bus. Zum Schutz ihrer Kinder schreibt sie hier unter einem Pseudonym.