Weiss-schwarzer Gamecontroller auf einem Schreibtisch mit einer Comicfigur

«Heimliches Gamen gibt es bei uns nicht»

In meiner Familie gibt es kaum Bildschirmzeit-Beschränkungen – und daher auch nie Streit darüber. Manchmal finde ich mich deswegen selbst furchtbar unpädagogisch. Bis ich von den Tricksereien und Konflikten in anderen Familien höre.

In meiner Familie gibt es kaum Bildschirmzeit-Beschränkungen – und daher auch nie Streit darüber. Manchmal finde ich mich deswegen selbst furchtbar unpädagogisch. Bis ich von den Tricksereien und Konflikten in anderen Familien höre.

Unsere 15-jährige Tochter ist autistisch und dauernd am Handy. Wie viele andere Kinder auf dem Spektrum nutzt sie das Smartphone gezielt zur → Selbstregulation. Es hilft ihr, sich zu beruhigen, Stress abzubauen oder Reize auszublenden. «Das Smartphone ist für mich wie eine Art digitaler Begleithund», sagt sie. «Ohne mein Telefon halte ich die Welt noch viel schlechter aus.»

Wenn ich sehe, wie andere Familien mit Regeln, Sperren und Handyentzug ihre Kinder vor zu viel Medienkonsum schützen, fühle ich mich manchmal sehr unpädagogisch und beinahe verantwortungslos.

Handyzugang nahezu unlimitiert

Es war ein Lernprozess, bis wir Eltern so weit waren, das zu akzeptieren. Als unser Sohn, zwei Jahre jünger als seine Schwester, ins Handy-Alter kam, versuchten wir es nochmals mit Regeln und Mahnfinger. Nur mässig erfolgreich, wie ich zugeben muss, zu unfair erschien es uns. Zudem wurde spätestens mit unserer Trennung eh klar, dass beide ein Handy brauchen, um sich zwischen den beiden Haushalten zu organisieren. Jedenfalls haben die Kinder nun nahezu unlimitierten Zugang zu ihren Geräten und vergleichsweise wirklich viel Bildschirmzeit. Wenn ich sehe, wie andere Familien mit Regeln, Sperren und Handyentzug ihre Kinder vor zu viel Medienkonsum schützen, fühle ich mich manchmal sehr unpädagogisch und beinahe verantwortungslos.

Denn ja, manchmal nervt es GRAUSAM, wenn beide Kinder kaum ein Gespräch führen können oder wollen, weil sie dauernd auf ihre Screens glotzen. Wenn sie bei schönstem Wetter ausgestreckt auf dem Bett liegen und sich Tiktoks reinziehen, die ich unterirdisch finde. Wenn sie beim Zugfahren kaum etwas von der Landschaft mitbekommen, weil das, was auf dem Handy passiert, spannender ist.

Wir sprechen über digitale Erfahrungen

Immerhin aber kriege ich ziemlich viel davon mit, was sie an den Geräten machen. Sie zeigen mir Likes und Nachrichten, die sie erhalten, Videos, die sie begeistern oder schockieren, Influencer*innen, die sie bewundern oder richtig doof finden und manchmal geben sie mir sogar Einblick in den Klassenchat. Wir sprechen darüber, was ihnen oder mir gefällt und was warum nicht, recherchieren gemeinsam, wenn Inhalte uns fragwürdig erscheinen, oder sie zeigen mir, wie man hasserfüllte User*innen und diskriminierende Posts bei den Plattformen melden kann. Ich erkläre ihnen, wenn mich etwas sorgt und manchmal machen auch sie mich auf etwas aufmerksam, zum Beispiel auf rechtsextreme Codes, die ich nie verstanden hätte ohne sie. Wenn aber mein Sohn die Wahl hat, mit seinen Freund*innen Siedler oder Fussball zu spielen, in die Badi zu gehen oder in den Bikepark, dann hat das immer Vorrang gegenüber den Aktivitäten am Smartphone. Und wenn meine Tochter entspannt ist, legt auch sie das Handy weg und macht gerne etwas anderes.

Die Nachbarsjungs sind gierig aufs Gamen

Ganz anders bei unserer Nachbarsfamilie. Deren beiden Jungs im Alter meines Sohnes haben sehr reglementierte Bildschirmzeiten und nur der Ältere hat überhaupt ein Handy. Will mein Sohn den jüngeren anrufen, muss er entweder die Eltern oder den Bruder erreichen oder an der Tür klingeln gehen, einen Festnetzanschluss gibt es nicht. Oft genug gibt mein Junge dann Kollegen den Vorrang, mit denen er einfacher abmachen kann. Die beiden Jungs sind – wenig überraschend – überaus gierig auf Gamen und Social Media. Weil die Zeit, die sie dafür erhalten, für ihre Bedürfnisse hinten und vorne nicht ausreicht, wenden sie alle möglichen Tricks an, um zu mehr Bildschirmzeit zu gelangen. Sie umgehen die Kindersicherung, finden den Code des Familien-iPads heraus, richten sich auf dem Schulcomputer Social-Media- und Game-Accounts ein oder fallen bei uns ein, um in das Handy oder die Konsole meines Buben zu starren. Merken dann die Eltern, dass ihre Kinder die Regeln umgehen, wird die Bildschirmzeit zur Strafe weiter reduziert oder gestrichen. «Keine Game-Zeit für Till bis 12. Juli», steht dann etwa in Grossbuchstaben auf dem gemeinsamen Familienplaner in der Küche.

Dieser unterschiedliche Umgang mit digitalen Medien führt zu folgenden Situationen:

  1. Wenn die Nachbarskinder bei uns sind, will mein Sohn mit ihnen lieber nicht zocken und Videos gucken, sondern rausgehen und Offline-Sachen unternehmen, während die beiden froh sind, in einem lockeren Umfeld endlich mal ohne Streit und Druck Onlinezeit zu geniessen.
  2. Ich habe ein leicht schlechtes Gewissen den Nachbarseltern gegenüber, weil sämtliche ihrer schön aufgestellten Zeitkonten, Regeln und Handyentzug-Bestrafungen durch einen einzigen Besuch bei uns torpediert werden.
  3. Wenn die andere Mutter mitkriegt, wie mein Sohn ständig ruft: «Ey Jungs, lasst uns die Velos nehmen und rausgehen!», kommt sie aus dem Staunen kaum mehr heraus und lobt den «vernünftigen» (haha!) Umgang meines Sohns mit den Geräten.

Unser Weg ist konfliktfreier

Ich möchte nicht sagen, dass unser Umgang mit digitalen Medien der richtige ist. Es ist keine uninformierte Lösung, aber auch keine von langer Hand geplante, sondern eher eine, die mit den Umständen entstanden ist. Ich denke, jede Familie muss selbst einen Umgang für ihren medialen Alltag finden, denn Kinder, Eltern und Umstände unterscheiden sich. Was ich feststelle, ist, dass unser Weg deutlich konfliktfreier ist als der unserer Nachbarsfamilie, weil der Medienkonsum durch seine Verfügbarkeit bei uns nicht mehr den Reiz des Verbotenen und Regulierten hat. Heimliches Gamen gibt es bei uns nicht! Im Grossen und Ganzen – und ja, mühsame Ausnahmen gibt es! – merken meine Teenies, wenn sie mal digital abschalten sollen. Offline-Begegnungen und -Aktivitäten haben für meine Kinder nicht an Bedeutung verloren und ihr Sensor für fragwürdige Online-Inhalte oder -Kontakte ist intakt.

Meist nutzen sie ihr Smartphone genau so wie ich auch: Um Kontakte zu pflegen, um ein Zugbillet zu kaufen, mit Twint zu bezahlen, mit Duolingo eine Sprache zu üben, sich zu unterhalten und zu informieren oder auf der Schul-App nachzugucken, welche Prüfungen und Aufgaben anstehen. Sie von dem abzuhalten, jetzt, wo sie mit grossen Schritten Richtung Erwachsenenleben schreiten, ist für mich undenkbar – selbst wenn sie mal stolpern oder Abzweigungen verpassen.

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Passend zum Thema empfehlen wir das Buch von Patricia Cammarata, «Dreissig Minuten, dann ist aber Schluss! Mit Kindern tiefenentspannt durch den Mediendschungel.»

 

 

Noëmi Pommes ist Medienschaffende und zweifache Mutter, setzt sich beruflich und privat für Inklusion und Diversität ein, regt sich auf über Ungleichbehandlung und Starrköpfigkeit und kompensiert mit Fritten, Singen und Campen im VW-Bus. Zum Schutz ihrer Kinder schreibt sie hier unter einem Pseudonym.