«Fünfzehn Minuten mit ihrem Lieblingsgame, und meine Tochter ist wieder auf Empfang»

| Noëmi Pommes

Die Tochter der Autorin ist «irgendwie anders» – auch ihr Medienkonsum ist jenseits aller Empfehlungen. Doch für die 13-Jährige, die sich derzeit in einer Autismus-Abklärung befindet, sind Tablet und Handy wichtige Werkzeuge, um mit ihrem Leben klarzukommen. Ein Plädoyer für einen differenzierteren Blick auf Bildschirmzeiten und Onlinesucht.

«Schau, Mama, hier ist das Kinderzimmer. Ich habe eine Wolkenlampe aufgehängt und die Wände hellblau gewählt. Da schläft das Baby, hier wäre mein Zimmer, da deins, gleich neben der Terrasse mit dem Swimmingpool. Gefällt es dir?» Meine dreizehnjährige Tochter blickt kurz in meine Richtung. Augenkontakt vermeidet sie, doch meine Meinung ist ihr wichtig. Stunden hat sie damit verbracht, auf ihrem Tablet in der App Toca Boca ihr – unser – Traumhaus einzurichten. Tatsächlich sieht man die Arbeit, die sie in die Gestaltung gesteckt hat: Böden, Tapeten, Möbel und sogar die Kleidung für die Familie sind sorgsam ausgesucht, auch der Hund hat ein Körbchen mit Kissen, das farblich mit dem Rest des Mobiliars harmoniert. Ich lobe ihre Arbeit. Und zweifle doch.

Am liebsten ist sie mit Plüschtier und Tablet im Bett

Meine Tochter befindet sich in der Abklärung für Autismus. Verschiedene Lernschwierigkeiten wurden bereits diagnostiziert. Soziale Interaktionen fallen ihr schwer, Schule ist ein Dauerkrisenthema. Am wohlsten fühlt sie sich in ihrem Bett, mit ihrem Tablet und mit Wilma, ihrem Riesen-Einhorn. Ihre Bildschirmzeit ist jenseits aller pädagogischen Ratschläge und goldenen Regeln.

«Nehmt ihr Handy und Tablet weg», sagen Leute in meinem Umfeld. Selbsternannte Fachpersonen. «Das Kind ist süchtig und manipuliert euch. Kein Wunder, macht es keine Ausflüge mehr mit und verschliesst sich gegenüber anderen Kindern, wenn es immer an sein Suchtmittel darf!» 

Sie tut das, weil sie sich damit regulieren, also Stimmungen und Reize ausgleichen kann, wenn ihr die ganze Welt rundherum zu viel wird.

Ein unkonventioneller Weg – trotz bekannter Risiken

Nun ja. Natürlich weiss ich um die Faszination digitaler Medien und den Sog, den Games und Social Media gerade auf Jugendliche ausüben können. Eine Faszination, die so weit reichen kann, dass User*innen ihren Lebensmittelpunkt zunehmend ins Virtuelle verlagern. Ich weiss, dass soziale Medien mit dem unrealistischen Abbild, das sie von der Welt zeichnen, Depressionen, Körperbild- oder Essstörungen verschärfen können. Dass es Algorithmen gibt, die psychisch belasteten User*innen mehr und mehr Inhalte vorsetzen, die ihren Blick auf die Welt weiter trüben. Dass sie Cybergrooming erfahren oder Opfer von Internetbetrug werden können, dass sie gemobbt oder radikalisiert werden können. Dass das blaue Bildschirmlicht schlecht ist für den Schlaf, Kopfhörer oft zu laut eingestellt sind, das endlose Daddeln Schmerzen in Rücken und Händen verursachen kann. ICH WEISS DAS. Schliesslich setze ich mich seit Jahren beruflich mit Medienkompetenzen und Jugendmedienschutz auseinander. Und obwohl wir Eltern einige Medienregeln durchaus umsetzen, uns mit ihr über Inhalte und Strategien unterhalten, fühle ich mich in Bezug auf die hohe Bildschirmzeit meiner Tochter so unzulänglich und inkompetent, dass ich anderen gegenüber meine Expertise manchmal verschweige.

Gamen hilft ihr, Emotionen zu regulieren

Und doch wünsche ich mir einen differenzierteren Blick auf das Thema. Dass wir Eltern und Fachpersonen genau hinschauen, gerade wenn die Situation wie bei meiner neurodiversen Tochter so komplex ist. Was macht sie eigentlich mit diesen Medien? Warum macht sie das? Wann macht sie das? Wie viel davon ist passiv, wie viel aktiv? Wie viel geschieht im Austausch mit anderen, wie viel alleine für sich?

Im Fall meiner Tochter zeigte sich: Wenn es ihr nicht gut geht, spielt sie bevorzugt ganz einfache Games, die eher für jüngere Kinder konzipiert sind. In denen es nicht um Wettbewerb geht, keine Ziele erreicht werden müssen, die grafisch sehr simpel gestaltet sind, in denen es kein Richtig oder Falsch gibt. Den Ton schaltet sie aus. Sie tut das, weil sie sich damit regulieren, also Stimmungen und Reize ausgleichen kann, wenn ihr die ganze Welt rundherum zu viel wird. Fünfzehn Minuten Traumhaus einrichten, und sie ist wieder auf Empfang für ihre Mitmenschen. Allemal besser, als das Zimmer zu demolieren, von Heulkrämpfen geschüttelt unter die Decke zu kriechen, die Nachbarschaft zusammenzuschreien oder sich selbst zu verletzen. Sagt zum Glück auch die Psychiaterin, die wir seit Kurzem an Bord haben. 

Für mich eine gute und kreative Form von Identitätsfindung, Selbstermächtigung und Selbstwirksamkeit.

Freundschaften pflegen dank digitalen Medien

Geht es ihr besser, zieht meine Tochter auf Roblox gerne kleine Tiere auf und handelt diese mit anderen User*innen. Auch hier, ohne Ton, ohne grossen Wettbewerb, dafür mit etwas sozialer Interaktion. Ist sie gut drauf, bearbeitet sie Bilder und Videos und postet sie gelegentlich auf TikTok. Ihre im Selbststudium erworbenen Video- und Fotoskills überragen meine schon lange.

In den Filmchen geht es übrigens durchaus um ernste Anliegen, um Massnahmen gegen die Klimakrise etwa oder um Depressionen unter Jugendlichen. Hasskommentare über ihre eigenwillige Rechtschreibung kontert sie selbstbewusst mit Verweis auf ihre Legasthenie, Zuspruch und liebe Kommentare krönt sie mit Herzen und typisch pubertären Liebesbekundungen. Für mich eine gute und kreative Form von Identitätsfindung, Selbstermächtigung und Selbstwirksamkeit. Am allerliebsten aber telefoniert sie mit ihrer Freundin aus Deutschland. Von der Guten-Morgen-Nachricht bis zum «Schlaf gut» halten sich die beiden über ihren Alltag auf dem Laufenden, ohne sich je im Real Life getroffen zu haben. Diese Internetfreundschaft aus ihrem Zimmer heraus zu pflegen fällt ihr deutlich einfacher als Freundschaften im Quartier oder in der Schule, die immer auch von Gruppendynamiken, Vergleichen und für sie schwer zu deutender Mimik und Gestik geprägt sind.

Du bist nicht so einsam, wie du denkst

Als Mama, die in einer Zeit anhaltenden Therapieplatzmangels von Pontius zu Pilatus läuft und kaum was unversucht lässt, um ihrem Kind zu helfen, sehe ich digitale Medien für meine Tochter nicht nur als Mittel zur Weltflucht, sondern auch als Instrumente, die ihr helfen, besser mit dem Alltag klarzukommen. Mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten. Sich Fähigkeiten jenseits von Klassenzimmern und Lerngruppen anzueignen. Und als Möglichkeit, herauszufinden, dass man nicht die*der einzige ist, die*der manchmal Mühe hat, mit dem ganzen wirren, bunten, überraschenden Zeitstrahl namens Leben klarzukommen. Dass da andere sind, die am gleichen Punkt stehen. Und darüber bin ich einfach nur froh.

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Lebensnahe Empfehlungen, die sich im Alltag umsetzen lassen, sind ein erklärtes Ziel von Jugend und Medien. In unserem Team fliesst nicht nur fachliches Wissen zusammen, auch die individuellen Erfahrungen, die wir als Eltern machen, spielen eine Rolle. Ja, das führt durchaus manchmal zum Clinch – aber die Realität ist nun mal keine theoretische Abhandlung, sondern folgt ihren eigenen (oft chaotischen) Regeln.

Vor diesem Hintergrund sind dies unsere wichtigsten Tipps:

  • Als Eltern kennen Sie Ihr Kind am besten. Achten Sie darauf, wie es sich im Umgang mit Medien verhält und ob Sie Veränderungen im Verhalten feststellen. Wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihr Kind in die digitale Welt flüchtet, um sich von Problemen und negativen Emotionen abzulenken, sprechen Sie das an. Thematisieren Sie Ihre Sorgen und Ängste.
  • Eine vertrauensvolle Basis ist das A und O. Seien Sie offen für die Medieninteressen Ihres Kindes. Welche Games findet es cool und warum? Wen verfolgt es auf Instagram oder TikTok? Gamen Sie auch mal zusammen, schauen Sie eine Folge der Lieblingsserie Ihres Kindes mit und sprechen Sie über Medienerfahrungen. So weiss Ihr Kind, dass Sie auch ein offenes Ohr haben, wenn Unsicherheiten, Probleme oder Ängste auftauchen.
  • Heranwachsende sind sehr unterschiedlich, wenn es um mediale Bedürfnisse, kognitive Fähigkeiten und emotionale Reaktionen geht. Es gibt darum keine feste Empfehlung in Bezug auf maximale Bildschirmzeiten – manchmal, gerade bei Jugendlichen, ist es sinnvoller, bildschirmfreie Zeiten zu definieren. Handeln Sie das ab dem Schulalter gemeinsam mit Ihrem Kind aus. Gestehen Sie ihm auch Autonomie zu. Und achten Sie zugleich darauf, dass nicht-mediale Aktivitäten Teil der Freizeit sind.

Noëmi Pommes ist Medienschaffende und zweifache Mutter, setzt sich beruflich und privat für Inklusion und Diversität ein, regt sich auf über Ungleichbehandlung und Starrköpfigkeit und kompensiert mit Fritten, Singen und Campen im VW-Bus. Zum Schutz ihrer Kinder schreibt sie hier unter einem Pseudonym.