Ein Junge sitzt zusammengekauert in der Bibliothek auf dem Boden.

«Entweder, wir filmen, wie du dich entschuldigst – oder wir schlagen dich ab!»

Für meinen Sohn nahm der Besuch in der örtlichen Bibliothek ein unschönes Ende: Nach dem Verlassen der Bücherei wurde er von älteren Schülern abgepasst, gefilmt und bedroht.

Für meinen Sohn nahm der Besuch in der örtlichen Bibliothek ein unschönes Ende: Nach dem Verlassen der Bücherei wurde er von älteren Schülern abgepasst, gefilmt und bedroht.

Ein kalter Mittwochnachmittag, Dauerregen: Mein 12-jähriger Sohn und sein Freund wissen kaum, was sie mit sich anfangen sollen und lungern in der Wohnung herum. Bis einer die Idee hat, der Quartierbibliothek einen Besuch abzustatten. Perfekt, denke ich, denn die gelangweilten Kinder im Wohnzimmer, wo ich doch im Homeoffice zu arbeiten versuche, strapazieren meine Nerven. Ausserdem stelle ich mir das schön vor: Zwei beste Freunde rennen durch den Regen, atmen frische Luft und bewegen sich, vertiefen sich gemeinsam in schöne Bücher und kommen am Ende mit roten Backen für einen selbstgemachten Zvieri zurück in die Stube.

Wie naiv ich war! Denn am Ende des Tages sind die Wangen meines Sohnes nicht rot, sondern tränenüberströmt. Und sein Freund nicht mit uns am Esstisch, sondern schockiert bei sich zu Hause. Und ich nicht am Brötchen Schmieren und Apfelschnitze Schneiden, sondern am Trösten, Fluchen und Herumtelefonieren. Aber der Reihe nach.

Drei ältere Jungs bedrängen meinen Sohn

«Wir gingen in die Bibi und wollten dort am Computer gamen», erzählt mein Sohn. Sie hätten Glück gehabt, zwei Rechner seien frei gewesen. «Doch kaum hatte ich mich bei meinem Compi eingeloggt, kamen drei ältere Jungs auf uns zu. Den einen kannte ich vom Sehen, der ging mal auf unsere Schule und ist jetzt in der Sek. Jedenfalls haben die drei immer wieder meinen Bildschirm ausgemacht, sodass ich ihn ständig neu anstellen musste.» Auch nachdem er endlich sein Spiel habe starten können und mitten in einer Runde gewesen sei, seien die etwa 15-jährigen Störenfriede wieder gekommen und hätten seinen Monitor ausgeschaltet. «Weil ich so nichts mehr sehen konnte, verlor ich im Spiel ein Leben. Da wurde ich hässig und sagte ihnen, sie sollen abhauen!» Sofort seien die Jungs aggressiv geworden und zu dritt nah an meinen Sohn herangetreten. «Sie meinten, ich solle die Klappe halten und nicht frech sein. Mit ihren Körpern haben sie mich vom Stuhl gedrängt.

Auch wenn mein kleiner grosser Junge weiss, dass er richtig gehandelt hat, sind die Angst, die Demütigung, die Empörung und die Wut gross.

«Sag ‹Sorry, Papa!›, oder wir verhauen dich!»

Zusammen mit seinem Freund verliess mein Sohn darauf die Computerecke, um im oberen Stock der Bibliothek Comics anzuschauen und über das Erlebte zu sprechen. Doch als die beiden eine Stunde später aufbrechen wollten, kamen sie nicht weit: Draussen bei den Pingpong-Tischen wartete das Trio und nahm sie in die Mangel. «Sie umkreisten und schubsten uns und verlangten von mir, dass ich mich entschuldigte, weil ich frech gewesen sei. Ich müsse den Älteren Respekt erweisen.» Würde er sich nicht bei ihnen entschuldigen, würden sie ihn verprügeln.

Einer der Jugendlichen habe darauf sein Handy gezückt und zu filmen begonnen. «Die anderen packten mich von hinten, drehten mich in Richtung ihres filmenden Kollegen und zwangen mich, ‹Sorry, Papa!› zu sagen. Ich wusste, dass das Video auf Snapchat landen würde. Aber ich hatte keine Wahl.» Er habe versucht, nicht direkt in die Kamera zu schauen, habe die beiden Worte gesagt und sei danach unter dem Lachen der Jugendlichen mit seinem Freund davongerannt, zurück in die Sicherheit unserer Wohnsiedlung

Gleich morgen gehen wir zur Polizei

Ich bin stolz auf meinen Sohn, dass er so vernünftig reagiert und nicht versucht hat, sich zu wehren. Doch auch wenn mein kleiner grosser Junge weiss, dass er richtig gehandelt hat, sind die Angst, die Demütigung, die Empörung und die Wut gross. Er weint in meinen Armen und ich versuche, ihn zu trösten. Aber eigentlich fehlen mir die Worte. Zwar kam mein Sohn körperlich nicht gross zu Schaden, doch was ihm widerfahren ist, diese Drohung und Erniedrigung, dazu das ungewollte Filmen und die Blossstellung auf Social Media, ist gewaltvoll genug.

Später telefoniere ich mit den Eltern seines besten Freundes und mit dem Vater meines Sohnes. Wir sind uns einig, dass wir gleich am nächsten Tag zur Polizei gehen werden. «Die sollen in Uniform bei diesen Jungs zu Hause aufmarschieren und ihnen vor den Eltern eine Lektion erteilen», meint mein Ex. Er lädt sich Snapchat herunter und versucht vergebens, das Video unseres Sohnes auf der Plattform zu finden, um einen Eindruck davon zu erhalten, wie stark es sich verbreitet hat – und um es zu sichern als Beweis für die Polizei.

Zwar kam mein Sohn körperlich nicht gross zu Schaden, doch was ihm widerfahren ist, diese Drohung und Erniedrigung, dazu das ungewollte Filmen und die Blossstellung auf Social Media, ist gewaltvoll genug.

Zu spät für eine Anzeige

Inzwischen sind fünf Monate vergangen und ich schäme mich sehr. Denn der Gang zur Polizei hat nie stattgefunden. Immer kamen Dinge dazwischen: Ein Snowboardunfall und eine Grippewelle, Abgabetermine bei der Arbeit, Schulferien, Kindergeburtstage, Bequemlichkeit. Schnell war dieser Gewaltvorfall in unserer Familie kein Thema mehr und das Polizei-To-Do rutschte auf der Liste immer weiter nach unten, bis es irgendwann ganz verschwand. Erst jetzt, wo ich über den Angriff schreibe und nochmals mit meinem Sohn darüber spreche, wird mir wieder bewusst, wie heftig das war und wie ausgesetzt und bedroht er sich gefühlt haben musste. Auch wenn er den Angriff schon kurz darauf nicht mehr erwähnt hatte, war es nicht okay, dass ich nicht stärker reagiert habe. Viel zu spät entschuldige ich mich bei ihm und rufe den Jugenddienst der Stadtpolizei Zürich an. «Tatsächlich ist die Frist für eine Anzeige nun abgelaufen», erklärt mir die Polizistin am Telefon. Handele es sich um ein Antragsdelikt, müsse eine Anzeige innerhalb von drei Monaten ab Kenntnis erfolgen. Trotzdem nimmt sie sich Zeit und erklärt mir, wie ich bei einem solchen Vorfall in Zukunft vorgehen könne.

Liebe Leser*innen: Ich hoffe, dass Sie oder Ihre Kinder nie etwas Ähnliches erleben. Falls doch, machen Sie es besser als ich. Unten aufgelistet, was die nette Polizistin mir riet:

  • Wenn Ihr Kind einen solchen Vorfall erlebt, unbedingt ernst nehmen und betonen, wie wichtig und gut es ist, dass es sich Ihnen anvertraut hat.
  • Wenn möglich, Beweise sichern (Link, Bildschirmaufnahme oder Screenshots, Profilnamen mit dem geposteten Video/Foto, Datum und Zeit).
  • Nach der Beweissicherung sollte das Video mit Ihrem Kind bei Snapchat/Meta oder einer anderen Social-Media-Plattform gemeldet werden (selbst oder über die Polizei).
  • Der Vorfall ist strafrechtlich relevant. Sie können Anzeige auf dem Polizeiposten erstatten, auch, wenn Ihr Kind die Täter*innen nicht kennt (Anzeige gegen unbekannte Täterschaft).
  • Die Frist für eine Anzeige hängt davon ab, ob es sich um ein Offizialdelikt (keine Frist) oder ein Antragsdelikt (da beträgt die Frist drei Monate ab Kenntnis) handelt.
  • Bedenken Sie, dass Ihr Name resp. der Name Ihres Kindes auf der Anzeige sichtbar ist.
  • Vor einer allfälligen Anzeige können Sie sich auch beraten lassen bei der → Polizei, bei der → Opferhilfe oder bei einer anderen geeigneten Fachstelle.

Noëmi Pommes ist Medienschaffende und zweifache Mutter, setzt sich beruflich und privat für Inklusion und Diversität ein, regt sich auf über Ungleichbehandlung und Starrköpfigkeit und kompensiert mit Fritten, Singen und Campen im VW-Bus. Zum Schutz ihrer Kinder schreibt sie hier unter einem Pseudonym.