Für meinen Sohn nahm der Besuch in der örtlichen Bibliothek ein unschönes Ende: Nach dem Verlassen der Bücherei wurde er von älteren Schülern abgepasst, gefilmt und bedroht.
Ein kalter Mittwochnachmittag, Dauerregen: Mein 12-jähriger Sohn und sein Freund wissen kaum, was sie mit sich anfangen sollen und lungern in der Wohnung herum. Bis einer die Idee hat, der Quartierbibliothek einen Besuch abzustatten. Perfekt, denke ich, denn die gelangweilten Kinder im Wohnzimmer, wo ich doch im Homeoffice zu arbeiten versuche, strapazieren meine Nerven. Ausserdem stelle ich mir das schön vor: Zwei beste Freunde rennen durch den Regen, atmen frische Luft und bewegen sich, vertiefen sich gemeinsam in schöne Bücher und kommen am Ende mit roten Backen für einen selbstgemachten Zvieri zurück in die Stube.
Wie naiv ich war! Denn am Ende des Tages sind die Wangen meines Sohnes nicht rot, sondern tränenüberströmt. Und sein Freund nicht mit uns am Esstisch, sondern schockiert bei sich zu Hause. Und ich nicht am Brötchen Schmieren und Apfelschnitze Schneiden, sondern am Trösten, Fluchen und Herumtelefonieren. Aber der Reihe nach.