Hilfsmittel und Schatzkiste für Erinnerungen

| Bettina Bichsel

Lisa (Name geändert) ist 17. Ein fröhliches Mädchen, das gerne zur Schule geht, viel Zeit mit ihrer Familie und den beiden Hunden verbringt und leidenschaftlich singt. Was Lisa von anderen Jugendlichen in ihrem Alter unterscheidet: Sie hat NCL, eine seltene, unheilbare Stoffwechselerkrankung. In der Schweiz sind rund 80 bis 100 Heranwachsende und ihre Familien betroffen, weltweit sind es schätzungsweise 70'000.

Umgangssprachlich wird NCL auch Kinderdemenz genannt, weil die Betroffenen neben den motorischen auch ihre kognitiven Fähigkeiten nach und nach verlieren.

Als ich Lisa und ihre Familie vor ein paar Jahren kennenlernte, konnte sie mich, wenn ich ganz nah vor ihr stand, noch mit ihren Augen wahrnehmen. Auch laufen konnte sie noch selbstständig. Inzwischen hat sie ihr Sehvermögen komplett verloren, kann nur mit Hilfe ein paar Schritte laufen und ist mehrheitlich auf den Rollstuhl angewiesen. Die Krankheit hat ihren → üblichen Verlauf genommen.
 

Den Schulgspänli vom Wochenende erzählen

Ich sitze mit Lisas Mutter und ihrer Schwester am Wohnzimmertisch. Vor uns liegt ein Tablet, das zu einem wichtigen Begleiter für die ganze Familie geworden ist. Verbunden ist es mit zwei grossen Buzzern: Der eine bedeutet »Weiter«. Wenn ich ihn drücke, kann ich mich durch die verschiedenen Inhalte hindurchklicken. Der zweite steht für »Enter«. Mit ihm kann ich einen Ordner oder eine Datei auswählen. Die Buzzer sind nötig geworden, weil Lisa nichts mehr sieht und entsprechend auf dem Tablet selbst nicht mehr navigieren oder etwas anklicken kann.

Technisch gesagt ist das Tablet ein Hilfsmittel der sogenannten Unterstützten Kommunikation (UK). In der Realität ist es aber weit mehr als das:

1. Hilfe im Unterricht

In Lisas Klasse sitzen Mädchen und Jungen mit ganz unterschiedlichen Beeinträchtigungen. Das Tablet ermöglicht es Lisa, mit den anderen zu kommunizieren. Jeden Sonntagabend zum Beispiel nimmt sie mithilfe eines Familienmitglieds auf, was sie am Wochenende erlebt hat. In der Schule kann sie dann die Fotos zeigen und den Text mit der Vorlesefunktion abspielen. Die Lehrerin nutzt das Tablet zudem als Unterrichtsmittel und speichert darauf zum Beispiel ein Tier- oder Liederquiz ab, das die Schüler*innen dann zu Hause spielen können.

2. Koordination zwischen Familie, Schule und weiteren Unterstützenden

Das Tablet ist Bindungsglied zwischen Familienleben, Schulalltag und Betreuungsangeboten. Wenn beispielsweise eine Therapie bei der Logopädin ansteht, kann diese auf dem Gerät sehen, was Lisa davor gemacht hat. War vorher schon viel los, kann sie darauf eingehen und die Aktivitäten, die sie mit Lisa macht, adaptieren.

3. Kreativitätstool

Je nachdem, was die Beeinträchtigung zulässt, sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Lisa hat sich erst vor kurzem gemeinsam mit einer Freundin eine Geschichte ausgedacht und diese dann aufgenommen. Bei den Playlisten mit ihren Lieblingsliedern singt sie lauthals mit.

4. Erinnerung

Ob Geburtstagsparty, Weihnachten, Familienausflug oder die Konfirmation, auf die Lisa so lange hingefiebert hat: All ihre Erlebnisse und Aktivitäten sind mit Fotos, Videos und Tonaufnahmen gespeichert. Nicht nur Lisa klickt sich immer wieder durch all die schönen Momente durch. «Für uns ist das Tablet eine Schatztruhe der Erinnerungen», sagt Lisas Mutter.

Neu kommt eine weitere Funktion hinzu, die in naher Zukunft wichtig sein wird. Denn Lisas sprachliche Fähigkeiten nehmen kontinuierlich ab. Selbst ihre Angehörigen und die Menschen, die sie betreuen, verstehen oft nicht mehr, was sie sagen möchte. Darum nimmt die Familie kleine Videos auf, in denen Lisa für verschiedene Bedürfnisse ihre eigenen Gebärden zeigt. So können die anderen lernen, wie Lisa mitteilt, wenn sie hungrig ist oder Durst hat. Wenn sie auf die Toilette muss oder ein Taschentuch braucht. Wenn sie Musik hören oder ihre Lieblingsserie schauen möchte.

Technisch nicht leicht zu bedienen, aber es lohnt sich

Das Tablet ist zwar eigens für die Unterstützte Kommunikation entwickelt worden und mit der entsprechenden Software ausgestattet. Bis man verstanden hat, wie alles genau funktioniert, dauert es aber ein bisschen. «Die Technik ist echt eine Herausforderung», finden sowohl Lisas Mutter wie auch ihre Schwester. Das mag mit ein Grund sein, weshalb auch Lehrkräfte mitunter Berührungsängste haben. Bei Lisa ist jedenfalls die Erfahrung, dass das Gerät unterschiedlich häufig zum Einsatz kommt – je nachdem, bei wem der Unterricht stattfindet. Eine gewisse technische Affinität und die Motivation, solche Tools einzusetzen, sind Voraussetzung.

Bevor die Schule vor rund vier Jahren mit der Idee der Unterstützten Kommunikation an Lisas Eltern herantrat, hatte gar niemand an diese Möglichkeit gedacht. Und so dankbar die ganze Familie heute für das Tool ist, so schwingt gleichzeitig auch ein leises Bedauern darüber mit, dass es nicht schon früher zum Einsatz kam. Gerade bei Heranwachsenden wie Lisa, die aufgrund ihrer Erkrankungen mit immer mehr Einschränkungen konfrontiert sind, hilft es, wenn sie sich mit einem Gerät vertraut machen können, solange die physischen, motorischen und kognitiven Voraussetzungen noch grösser sind. «So früh wie möglich anzufangen ist wichtig», sagt denn auch Lisas ältere Schwester. «So festigt sich der Umgang mit dem Gerät, und wenn die Einschränkungen krankheitsbedingt zunehmen, fällt es leichter, die Nutzung anzupassen.»

Sie selbst ist gerade von zu Hause ausgezogen, um Sonderpädagogik zu studieren und hofft, auch im Studium mehr zum Thema zu erfahren, damit sie später alle möglichen Hilfsmittel einsetzen kann.

***

Allgemeine Tipps zum Umgang mit digitalen Medien bei Kindern und Jugendlichen mit einer Beeinträchtigung finden Sie in unseren → Empfehlungen.

Bettina Bichsel ist Journalistin und Texterin. Sie schreibt und bloggt unter anderem für Jugend und Medien.